Das Mädchen mit den gläsernen Füßen (Ali Shaw)

Das Mädchen mit den gläsernen Füßen (Ali Shaw)

Klappentext:

Die Begegnung mit ihm war wie eine Kollision gewesen und sie hatte gewusst,
dass sie ihr Leben lang genau danach gesucht hatte: mit solcher Wucht mit einem anderen Menschen zusammenzuprallen, dass sie für einen Moment mit ihm verschmolz.

Eine karge, zauberhafte Inselgruppe voller wundersamer Bewohner – hierher kommt Ida zurück, um Antworten zu finden. Denn eine mysteriöse Veränderung geht mit ihr vor: Sie verwandelt sich zu Glas. Doch was Ida stattdessen findet, hier auf St. Hauda’s Land, ist die große Liebe.


Rezension:

Erinnerungen waren nichts als auf die Synapsen gedruckte Fotos.
(Seite 68)

Ida ist zum zweiten Mal auf St. Hauda’s Land, denn von ihrem ersten Besuch hat sie eine unangenehme und unerklärliche Nachwirkung davon getragen: Von den Füßen aufwärts verwandelt sie sich zu Glas. Bereits jetzt muss sie ihre Füße mit mehreren Sockenpaaren und festem Schuhwerk schützen, kann sich nur langsam fortbewegen und ist in ihrem sehr lebhaften Wesen extrem eingeschränkt. Die Bewohner der Inselgruppe leben sehr zurückgezogen und sich vor allem mit sich selbst beschäftigt – trotzdem versucht Ida alles Menschenmögliche, um Antworten und eine Lösung für ihr immer schneller fortschreitendes Problem zu finden.
Bei einem Spaziergang trifft sie auf den in sich gekehrten Hobbyfotografen Midas. Auf unerklärliche Weise ist er sofort fasziniert von ihrem offenen Wesen ist und fühlt sich von ihr angezogen, was ihm jedoch irgendwie Angst macht. Denn wie alle anderen Inselbewohner ist auch Midas sehr zurückhaltend im Umgang mit anderen, vor allem fremden Menschen, was viel mit seiner persönlichen Vergangenheit zu tun hat. Doch Ida hat etwas an sich, das ihn aus seiner Schale hervorbrechen lässt. Und auch Ida fühlt sich in Midas‘ Gegenwart erstaunlich wohl und zieht in Erwägung, ihn in ihr Geheimnis einzuweihen und um explizite Hilfe zu bitten.
Neben der Suche nach einer Möglichkeit, das wachsende Glas aufzuhalten, begeben sich die beiden auch auf eine behutsame Reise der zarten Emotionen und in Midas‘ Fall in die Vergangenheit – aufwühlend und nicht immer angenehm stößt das ungleiche Paar auf persönliche Grenzen und Erinnerungen, aber auch auf hilfsbereite Menschen und deren Lebensgeschichten – immer in dem Wissen, dass ein langer und steiniger Weg vor ihnen liegt, verlieren sie jedoch nie die Hoffnung …

Zwei völlig verschiedene Menschen mit völlig verschiedenen Lebensgeschichten stoßen in Ali Shaws Debüt aufeinander und finden im jeweils anderen den perfekten Gegenpol zur eigenen Persönlichkeit. Doch nicht nur dieses völlig authentisch wirkende Zusammenspiel macht Das Mädchen mit den gläsernen Füßen zu einem Lesevergnügen der ganz besonderen Art, denn der Autor schafft eine völlig neue Art der stillen Unterhaltung. Stille und Melancholie sind die Hauptbotschaften, die dieses Debüt ausmachen und durchweg vermittelt werden – unschöne Schicksale lassen die Charaktere auf eine tiefgehende Art lebendig werden, ohne dabei aufgedrängtes Mitleid zu wecken. Wunderschöne bildhafte Umschreibungen machen die ohnehin bestechende Optik auch für den Kopf greifbar und die dezent eingestreuten phantastischen Elemente fügen sich unaufdringlich in die Geschichte ein. Ein wahres Kunstwerk wurde hier geschaffen, das nicht nur durch optische, sondern auch durch inhaltliche Gestaltung glänzen, begeistern und überzeugen kann. Gerade Erwachsene, die sich schon viel zu lange nach einem „anständigen“ Märchen sehnen, finden endlich wieder einmal passenden Lesestoff, der fernab des überlaufenen Buchmarktes seinen sicheren Platz finden wird. Denn solch leisen Töne, wie Das Mädchen mit den gläsernen Füßen vermittelt, findet man nur selten auf den derzeitigen Bestsellerlisten oder auch nur in deren Nähe. In diesem Punkt hat Ali Shaw ganz klar die Nase vorn und der Leser freut sich schon jetzt auf weitere Titel aus dessen Feder, die hoffentlich nicht zu lange auf sich warten lassen.

Was in jedem Fall deutlich gemacht werden muss, ist die Tatsache, dass es sich bei dem vorliegenden Roman um kein Kinder- oder Jugendbuch handelt. Trotz der märchenhaften Aufmachung des Umschlags, den liebevoll gestalteten Kapitelanfängen und den scheinbar mit silbernem Feenstaub versehen Buchschnitt ist der Inhalt eher etwas für Erwachsene, denn nicht nur die Geschichte an sich ist mitunter schwer zu verdauen, auch die Sprache ist für einen höheren Anspruch gedacht. Lesepausen, um das Gelesene vollends zu verarbeiten und wirken zu lassen, bleiben nicht aus, denn gerade versteckte Metaphern finden sich hier zuhauf. Vieles wird erst nach dem Beenden wirklich klar, da die Geschichte zum Teil auch von ihrem lange klingenden Nachhall zu leben scheint. Zu empfehlen ist Das Mädchen mit den gläsernen Füßen daher – ähnlich den Charakteren – reiferen Jugendlichen, die ihren Altersgenossen im Denken und Empfinden ein Stück voraus sind, und vor allem sollten erwachsene Märchenanhänger auf keinen Fall an diesem Titel vorbeigehen.


Fazit:

Ein optisch bestechend schönes und inhaltlich faszinierend abwechslungsreiches Debüt legt Ali Shaw mit seiner Geschichte um Ida und Midas vor. Hoher sprachlicher Anspruch, (ausge)reif(t)e Charaktere und zahlreiche, nicht immer auf Anhieb erkennbare oder verständliche Metaphern machen Das Mädchen mit den gläsernen Füßen zu einem zauberhaften Märchen für Erwachsene, das nach dem Lesen noch lange nachhallt.




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